Jede und jeder ist von der Pandemie betroffen. Familien in sozialen Brennpunkten trifft es allerdings besonders. Es mangelt an Ressourcen und die Verzweiflung ist groß. Wir werfen daher mit der Schulpsychologischen Beratungsstelle der Stadt Duisburg einen Blick auf den Stadtteil Marxloh, auf die Herausforderungen, aber auch das Engagement vieler Menschen vor Ort.
Als Schulpsychologinnen sind Sie bereits viele Jahre in Duisburg tätig und haben einen Überblick über die Stadtteile. Wie würden Sie die aktuelle Situation in Duisburg-Marxloh beschreiben?
Kristina Lastering: Vor Ort gibt es einerseits viele engagierte und kompetente Lehrkräfte, mit denen wir zusammenarbeiten. Das Schulklima ist freundlich, es wird ein netter Umgang gepflegt und die Schülerinnen und Schüler nehme ich als sehr wissbegierig und lernfreudig wahr. Die Eltern sind zwar interessiert, aber auch vorsichtig. Das kann fälschlicherweise als Desinteresse gewertet werden. Andererseits herrschen in Marxloh aber auch oft prekäre Lebensverhältnisse. Die Schulen sind stark gefüllt, es gibt eine große Sprach- und Kulturvielfalt und so ergeben sich in Marxloh andere Herausforderungen als in anderen Stadtteilen. Ich habe immer erlebt, dass die Schulen damit sehr kreativ umgehen und mithilfe wirklich guter Zusammenarbeit gute individuelle Lösungen finden.
Insa Wessendorf: Das kann ich nur unterschreiben. Wenn ich die Entwicklung über die Jahre hinweg betrachte, hat sich Marxloh als Stadtteil stark verändert. Früher war Marxloh stark durch die Zuwanderung von Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen, vor allem aus der Türkei, geprägt. Inzwischen kommen viele Zuwanderer und Zuwanderinnen aus Bulgarien und Rumänien und 2015 kamen viele Geflüchtete. Marxloh ist eine sogenannte Arrival-City geworden und das spüren natürlich auch die Schulen. Die Entwicklung ist auch in anderen Stadtteilen wie Hochfeld zu beobachten, aber das besondere an Marxloh ist, dass sich die Schulen zusammengeschlossen haben. Wir erleben in diesem Zusammenschluss eine geballte Portion Kompetenz. Die gute Vernetzung hilft den Schulen untereinander, diese großen Herausforderungen gemeinsam zu stemmen.
Wenn Sie auf die zwei Jahre der Pandemie blicken, welche Entwicklungen konnten Sie da auch in Marxloh beobachten?
Insa Wessendorf: Die besondere Situation in einem Stadtteil wie Marxloh wurde durch die Pandemie nochmal verschärft. Was wir feststellen ist, dass die Schulen in dem Sinne keinen Lockdown hatten. Natürlich waren nicht alle Schülerinnen und Schüler vor Ort aber wir waren erstaunt, wie viel noch in Präsenz (Notbetreuung, Study-Halls, Materialausgabe etc.) an den Schulen im Sinne der Kinder stattgefunden hat. Die Lehrkräfte, aber auch die Eltern und die Schülerinnen und Schüler haben die Pandemie mit großem Einsatz gemeistert. Man darf aber auch nicht darüber hinwegblicken, dass Familien und Kinder von einem Tag auf den anderen verschwunden waren. Die verschiedenen Professionen einer Schule haben sich beispielsweise auf den Weg gemacht, um die Familien zu finden, sie zu besuchen und den Kontakt zu halten, wenn die Kinder Zuhause waren. Es wurden kreative Lösungen gefunden, um den Kindern Abwechslung bieten zu können. Der Sportunterricht konnte nicht stattfinden, also haben die Lehrkräfte einen Spaziergang mit den Kindern durch den Stadtteil gemacht.
Die Pandemie hat auch zu einer großen Erschöpfung bei allen geführt und auch zu vielen Ängsten. Viele Eltern wollten nicht, dass ihre Kinder rausgehen; aus Angst, dass sie sich anstecken könnten. So haben sich einige Kinder lange mit Computer, Laptop oder Handy beschäftigt und auf soziale Kontakte verzichtet. Die Gespräche mit den Familien und Lehrkräften waren und sind daher essenziell. Hierbei unterstützen uns die interkulturellen Beraterinnen. Das beansprucht zwar mehr Zeit, ist aber sehr hilfreich. Denn so gewinnen die Schulen einen anderen Blick auf die Familien und die Familien einen anderen Blick auf die Schule.
Inwiefern haben sich die Konflikte im Schulalltag gespiegelt?
Insa Wessendorf: Ja klar. Gesellschaftliche Konflikte wie Masken- und Impfpflicht spiegeln sich in der Schule wider. Es gibt Eltern, die Vorbehalte haben, sich impfen zu lassen. Dann kommen Fragen auf wie: Wo trifft man sich mit den Eltern, wenn man sich nicht im Schulgebäude treffen kann? Zusammen mit den Lehrkräften und den interkulturellen Beraterinnen haben wir kreative Lösungen gefunden. Wir waren viel in Schulen unterwegs und waren nah an den Kindern, Lehrkräften und Eltern – trotz Lockdown. Zwar mit Masken und Trennscheibe, aber der Kontakt war da. In bestimmten Momenten musste man die Maske dann auch mal abnehmen, damit die Kinder die Chance haben, einen zu verstehen. Übersetzerinnen waren dann auch dabei. Coronakonform zu arbeiten, ist schon sehr herausfordernd.
Frau Wessendorf, sie sind Leiterin der Schulpsychologie in Duisburg. Sehen Sie Unterschiede der Belastung der Kinder und Lehrkräfte zwischen den verschiedenen Stadtteilen oder würden sie sagen, diese Pandemie trifft eigentlich jeden in irgendeiner Art und Weise?
Ina Wessendorf: Das ist eine schwierige Frage. Ich würde sagen, dass jeder und jede von dieser Pandemie betroffen ist. Es hängt aber auch davon ab, wie viele Ressourcen man zur Verfügung hat. Denn Stressmodelle beinhalten, dass man in Stress gerät, wenn Anforderungen und Ressourcen nicht mehr kompatibel sind. Dauerhafter Stress macht krank. An den Schulen in Marxloh und wahrscheinlich auch an vielen anderen Schulen gibt es zu wenig Schulraum. Es sind zu viele Kinder in einer Klasse. Viele Lehrerstellen sind nicht besetzt. Dieser Ressourcenmangel macht sich in ganz Duisburg bemerkbar, ist aber in den sogenannten Brennpunktgebieten nochmal besonders herausfordernd. Wenn wir überregionale Treffen mit anderen Schulpsychologen und Schulpsychologinnen haben, können wir die Herausforderungen vergleichen und stellen immer wieder fest, dass die Themen, mit denen wir hier in Duisburg zu tun haben, in anderen Schulberatungsstellen erst ein paar Jahre später ankommen. Wir sind hier am Puls der Zeit und gleichzeitig merken wir wie viel Verzweiflung hier herrscht. Also trotz des großen Engagements von allen Seiten merke ich, dass die Ressourcen in vielen Familien so knapp sind, dass es ums Überleben geht.
Was würden Sie sich wünschen, um die Lage in Stadtteilen wie Marxloh oder Hochfeld zu verbessern?
Insa Wessendorf: Ich würde das eigentlich lieber die Schulen, die Schulleitungen, die Kollegien, die Eltern und die Kinder fragen. Ein großer Wunsch ist natürlich, dass die Pandemie endet. Ein weiterer Wunsch sind kleinere Klassen und genug Möglichkeiten der Förderung für die Kinder, die nicht so gut Deutsch sprechen, und ihre Muttersprache und Deutsch lernen wollen.
Was uns besonders am Herzen liegt, ist ein respektvoller und ressourcenorientierter Blick auf Marxloh. Marxloh wird oft als „No-Go-Area“ dargestellt. In meinem Bekanntenkreis erlebe ich immer wieder Sätze, wie „was du bist in Marxloh, das ist doch gefährlich.“ In Marxloh gibt es viel Unterstützung untereinander, Herzlichkeit, Dankbarkeit und Offenheit. Diese Merkmale gehen außerhalb der Stadtteile aber verloren.
Zu den Personen:
Insa Wessendorf leitet seit 10 Jahren die Schulpsychologische Beratungsstelle Duisburg.
Kristina Lastering arbeitet seit 2018 in der Schulpsychologischen Beratungsstelle Duisburg.
Im Rahmen der Kooperation mit dem Bildungsfairbunt.Marxloh sind sie zusammen mit anderen Schulpsychologinnen vermehrt in Marxloh an Schulen tätig und unterstützen regelmäßig vor Ort. Angebote wie Lehrkraftsprechtage, Einzelfallberatungen und Fortbildungen sind fester Bestandteil ihrer Arbeit dort. Zudem sind sie verantwortlich für eine gute Kooperation mit den interkulturellen Beraterinnen, um eine enge Zusammenarbeit in Marxloh und in ganz Duisburg zu ermöglichen.
Weitere Informationen:
Schulpsychologische Beratungsstelle der Stadt Duisburg
Ansprechpartnerin für inhaltliche Fragen:
Wübben Stiftung
- Gregor Entzeroth, Projektmanager
- Speditionstraße 13, 40221 Düsseldorf
- entzeroth[at]wuebben-stiftung.de
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