Die Pandemie hat offen gelegt, was wir schon lange wissen: Kinder, die zu Hause von ihren Eltern unterstützt werden, haben bessere Bildungschancen als die anderen. Wir haben mit dem Soziologen Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani darüber gesprochen, wie die Rolle der Eltern im Bildungssystem aussieht und wie es gelingt, die Schule nicht nur nach Hause, sondern die Eltern in die Schule zu holen.
Herr Prof. El-Mafaalani, die Schulen in Deutschland setzen auf eine starke Beteiligung der Eltern. Wie nehmen Sie die Rolle der Eltern im Bildungssystem wahr?
Aladin El-Mafaalani: Die Rolle der Eltern im deutschen Bildungssystem ist sehr groß. Insbesondere bei den jüngeren Kindern wird Elternmitarbeit vorausgesetzt. Mit steigendem Alter löst sich das dann ein wenig von den Eltern ab. Historisch lässt sich das unter anderem mit der Entstehung der Halbtagsschule erklären, die eingeführt wurde, damit Kinder nachmittags noch arbeiten konnten. Mit der wirksamen Abschaffung der Kinderarbeit war es dann hauptsächlich die Mutter, die die Mitarbeit in der Bildung ihrer Kinder übernommen hat. Erst mit der Berufstätigkeit beider Elternteile entsteht die Notwendigkeit, Ganztagsschulen weiter auszubauen. Was glauben Sie, welche Effekte diese starke Elternbeteiligung im Bildungssystem hat? Eine der Hauptursachen dafür, dass der Ungleichheits- oder Herkunftseffekt in Deutschland so stark ist, ist der Fakt, dass das System die Beteiligung der Eltern voraussetzt. Nicht der Unterricht, die Schulbücher usw. sind schlechter als anderswo, sondern die Ungleichheit liegt in der Annahme einer systemimmanenten Mitarbeit der Eltern.
Wie viel Einfluss haben die Eltern dann in dieser Rolle auf die Bildungserfolge ihrer Kinder? Und was bedeutet das für die Bildungsgerechtigkeit?
Es hängt sehr viel von den Eltern ab. Das führt dazu, dass die einen Eltern diese Aufgabe hervorragend erfüllen und andere dazu nicht in der Lage sind. Das hat nicht nur mit der Finanzierung von Nachhilfe zu tun. Es geht um die grundsätzliche Förderung der Kinder. Ein Musikinstrument zu erlernen oder einen Sportverein zu besuchen, das sind Dinge, die in bildungsbürgerlichen Familien alltäglich sind. Sie haben einen positiven Effekt auf die Motivation der Kinder, auf Lernstrategien und auch auf das Lernen selbst, obwohl sie erst einmal nicht viel mit der Schule zu tun haben. Der Vorteil, den diese Kinder haben, ist also teilweise gar nicht schulbezogen. Die Möglichkeiten geben ihnen Raum, sich selbst und ihr Lernen zu reflektieren. Dieser Raum steht leider nicht allen Kindern zur Verfügung.
Hat die Pandemie das verstärkt? Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Die Pandemie hat das verstärkt. Allerdings anders als zum Beispiel Sommerferien. Bei den Schulschließungen waren alle eingeschränkt, auch die privilegiert aufwachsenden Kinder. In den Sommerferien reisen die einen aber durch die Welt und lernen andere Kulturen und Sprachen kennen, während die anderen im Prinzip so leben wie unter Pandemiebedingungen, wobei die Diskrepanz zwischen der Situation im Lockdown und dem allgemeinen Herkunftseffekt nicht ganz vergleichbar ist. Aber eines haben wir durch Corona gelernt: Selbst mittelmäßige Schulen sind besser als geschlossene Schulen. Das belegt, dass die Ungleichheit in den Familien liegt. Das ist ein spannender Punkt.
Darauf sind Sie auch in Ihrem Buch „Mythos Bildung“ noch vor dem ersten Lockdown und den Schulschließungen eingegangen.
Genau, das Buch ist einen Monat vor dem ersten Lockdown erschienen. In der Einleitung bin ich einem Gedankenexperiment nachgegangen und habe überlegt, was eigentlich wäre, wenn es keine Schule gäbe. Ohne Schule wäre die Ungleichheit viel größer. Auf einmal ist aus diesem Gedankenexperiment leider ein Realexperiment geworden. Die Pandemie verstärkt die Bildungsungerechtigkeit, aber nicht so stark, als gäbe es gar keine Schule. Gekoppelt an die allgemeinen Benachteiligungen zeigen sich aber gerade bei Grundschülerinnen und Grundschülern die Auswirkungen der Pandemie und der Schulschließungen – insbesondere in den Bereichen Lesen und Rechnen. Je älter die Kinder und Jugendlichen waren, als die Pandemie begann, desto mehr verläuft sich dieser Effekt.
Infos mitgeben, sich vernetzen, die Eltern miteinander vernetzen, nach und nach gegenseitige Erwartungen verdeutlichen – das erreicht man durch zufälligen, niedrigschwelligen Austausch.
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani
Gerade an Schulen in herausfordernden Lagen gibt es besonders viele Kinder aus sozial und ökonomisch benachteiligten Familien. Häufig haben diese Eltern schlechte oder wenig Erfahrung mit Schule gemacht. Auf der anderen Seite gibt es Lehrkräfte, die auch Hemmungen haben oder nicht wissen, wie sie auf die Eltern zugehen sollen. Was glauben Sie, wie kann man diese beidseitigen Hemmungen oder eventuell auch Vorurteile abbauen?
Das ist nicht einfach zu beantworten. In der Lehrkräfteausbildung wird Elternarbeit bisher leider stiefmütterlich behandelt. Daher sollten Lehrerinnen und Lehrer am besten gar keine Elternarbeit machen. Gleichzeitig ist Elternarbeit aber unbedingt notwendig und in mancher Hinsicht anspruchsvoller als die Arbeit mit den Kindern. Macht man bei Eltern in der kurzen Zeit, die sie an der Schule sind, einmal etwas falsch, richtet man womöglich nachhaltigen Schaden an. Für gute Elternarbeit braucht es also Konzepte und qualifiziertes Personal.
Was wäre in solchen Konzepten für Elternarbeit wichtig?
Es ist wichtig, die Eltern dafür zu sensibilisieren, worin die Herausforderung liegt und warum ihre Mitarbeit an der Schule wichtig ist. Ich habe noch nie gehört, dass Eltern nicht sofort reagieren, wenn sie verstehen, dass ansonsten ungewollt und unbewusst ein Nachteil für ihre Kinder entsteht. Auch Lehrkräfte müssen sensibilisiert werden. Sie müssen wissen, dass einige Kinder mit spezifischen Herausforderungen aufwachsen, die sie als Lehrkraft gar nicht lösen können, ohne dass die Eltern mitwirken. Erst wenn das verstanden wird, gelangt man zum eigentlichen Kern: den wechselseitigen Erwartungen zwischen Eltern und Schule, dem Austausch darüber und die Möglichkeiten der Umsetzung. Vermutlich kommen auf beiden Seiten sehr große Überraschungen zu Tage.
Beim Modell der Familiengrundschulzentren geht es vor allem darum, die Eltern an die Schule zu holen – nicht nur durch Elternsprechtage, sondern durch niedrigschwellige Angebote, um damit unter anderem einen Raum zum Austausch zu
schaffen. Was halten Sie denn von diesem Modell?
Einen anlasslosen Austausch halte ich für besonders sinnvoll. Normalerweise kommen gerade benachteiligte Eltern und Lehrkräfte immer nur dann in Kontakt, wenn irgendwas Negatives passiert ist. Das ist dann bei dieser ganzen Hektik und unprofessionellen Elternarbeit besonders schwerwiegend. Infos mitgeben, sich vernetzen, die Eltern miteinander vernetzen, nach und nach gegenseitige Erwartungen verdeutlichen – das erreicht man durch zufälligen, niedrigschwelligen Austausch. Das entscheidende ist, dass dieser Austausch irgendwie organisiert werden muss, vor allem in Kita und Grundschule, und das hängt häufig von den Rahmenbedingungen vor Ort ab. Familienzentren sind deshalb ein absolut sinnvoller Zugang.
Wo sehen Sie mögliche Schnittstellen und Synergien von Familiengrundschulzentren zur Kinder- und Jugendhilfe oder vielleicht auch zu Einrichtungen in der unmittelbaren Nachbarschaft der Schule?
Die Schnittstellen muss man aktiv schaffen. Auch Ganztagsgrundschulen mit guter Qualität sind nur umsetzbar, wenn sich Schulen mit den Akteuren und pädagogischen Einrichtungen in der Umgebung vernetzen. Das hat auch ein riesiges Potenzial für den Sozialraum, da über die Schulen ziemlich viele Menschen erreicht werden könnten. Dadurch hat man dann eine gute Basis für Synergieeffekte.
Wir können nicht warten, bis sich in zehn Jahren der Schulbau verändert, sondern es müssen die Räumlichkeiten im Sozialraum genutzt werden.
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani
Sehen Sie eine Möglichkeit von Schule darin, zum Beispiel eine Vielfalt an Kulturerfahrungen für benachteiligte Kinder, die sonst wenig damit in Berührung kommen, in die Schule zu holen?
Der Fachkräftemangel bietet keine andere Möglichkeit, als die Fachkräfte einzubinden, die es außerhalb der Schule gibt – zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Musikschulen oder von Sport-, Kunst- und Kulturangeboten. Es ist außerdem wichtig, mit den weiterführenden Schulen zu kooperieren. In Deutschland haben wir aber das Problem mit fehlenden Räumlichkeiten. Insbesondere an Grundschulen sind die Grundstücke und Gebäude zu klein, vor allem wenn man bedenkt, dass immer mehr Kinder nachmittags in der Schule sind. Wir können aber nicht warten, bis sich in zehn Jahren der Schulbau verändert, sondern es müssen die Räumlichkeiten im Sozialraum genutzt werden. Ein Angebot ist dann vielleicht Schulsache, findet aber in der Musikschule statt. Die Schule ist dann verantwortlich für Transport und Abwicklung. Auch hierfür wird wieder Personal benötigt. Es müssten auch weitere Konzepte aufgenommen werden, wie Defizitausgleich oder Begabtenförderung, Vereinsstrukturen und weitere pädagogische Institutionen. Ohne diese Art von Vernetzung und Umorganisation ist eine Umsetzung nicht möglich.
Immer mehr Professionen arbeiten an Schulen. Neben den Lehrkräften gibt es den Ganztag, die Schulsozialarbeit, Psychologinnen und Psychologen und viele mehr. Wie schätzen Sie die Kultur der Zusammenarbeit zwischen all diesen Akteurinnen und Akteuren an einer Schule ein?
Das funktioniert nach und nach. Es wird versucht, ein System aufzubrechen, das sich im 19. Jahrhundert etabliert hat und seitdem so ist, wie es ist. Zudem ist die Ausbildung in den verschiedenen Professionen eigentlich nicht auf Kooperation ausgelegt. Dafür läuft die multiprofessionelle Zusammenarbeit tatsächlich nicht schlecht. Sie ist nicht gut, aber besser, als man annehmen könnte. Es zeichnet sich seit den letzten fünf Jahren eine positive Entwicklung ab und die Problemwahrnehmung in den verschiedenen Professionen ist eine ähnliche. Wenig optimistisch lässt sich allerdings auf das Zeitfenster blicken, das für die weitere Entwicklung zur Verfügung steht.
Welche Herausforderung sehen Sie da?
Den demographischen Wandel. Er drückt sich in Schulen deutlicher aus als in anderen Institutionen und Betrieben. In den nächsten zehn Jahren werden so viele Lehrkräfte und Schulleitungen aus der Baby-Boomer-Generation in Rente gehen, dass sich der Lehr- und Fachkräftemangel noch verstärkt. Dann gehen zum einen die Menschen, die einem Wandel und möglichen Veränderungen im Weg standen, aber zum anderen gehen auch die, die den Laden jahrelang am Laufen gehalten haben. Zudem ersetzen die Kinder und Jugendlichen, die jetzt zur Schule gehen, die Baby-Boomer-Generation. Deshalb sollte es gerade jetzt und in den nächsten Jahren in Schule und in der multiprofessionellen Zusammenarbeit nicht an Qualität mangeln.
Vielen Dank, Herr Prof. El-Mafaalani.
Mehr zum Thema finden Sie hier im neuen impaktmagazin “Familiengrundschulzentren – Bitte Nachmachen!”
Ansprechpartner für inhaltliche Fragen
- Michael John, Programmleiter Familiengrundschulzentren
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